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Als junger Mann Anfang der 1960er Jahre hatte Malik Solanka die Science-Fiction-Romane dessen verschlungen, was später als das Goldene Zeitalter des Genres bezeichnet wurde. Auf der Flucht vor der häßlichen Realität des eigenen Lebens hatte er in der Fantasy - in ihren Parabeln und Allegorien, aber auch in ihren freien Flügen der reinen Erfindung, ihren gewundenen, verdrehten Selbstgefälligkeiten - eine unendlich metamorphosierende Alternativwelt gefunden, in der er sich instinktiv zu Hause fühlte. Er abonnierte die legendären Zeitschriften Amazing und F&SF, kaufte so viele der gelb gebundenen Victor-Gollancz-SF-Folgen, wie er sich leisten konnte, und kannte die Bücher von Ray Bradbury, Zenna Henderson, A. E. van Vogt, Clifford D. Simak, Isaac Asimov, Frederik Pohl und C. M. Kornbluth, Stanislaw Lern, James Blish, Philip K. Dick und L. Sprague de Camp auswendig. Die Science Fiction und Fantasy des Goldenen Zeitalters waren nach Solankas Ansicht ganz besonders geeignet gewesen, metaphysische Ideen und Romane einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Mit zwanzig war sein Lieblingsroman eine Story namens Die neun Milliarden Namen Gottes, in dem ein tibetanisches Kloster, das dafür gegründet wurde, die Namen des Allmächtigen zu zählen - weil man glaubte, das sei der einzige Grund für die Existenz des Universums -, einen Spitzencomputer kauft, um den Prozeß zu beschleunigen. Gewiefte Fachleute der Industrie kommen ins Kloster, um den Mönchen zu helfen, die große Maschine in Gang zu setzen. Sie finden die ganze Idee des Namenauflistens eher lächerlich und fragen sich, wie die Mönche reagieren würden, wenn die Arbeit getan ist und das Universum weiterbesteht; also schleichen sie sich, sobald sie ihre Pflicht getan haben, leise davon. Später, auf dem Flug nach Hause, vermuten sie, daß der Computer mit seiner Aufgabe fertig sein muß. Sie sehen zum Fenster in den Nachthimmel hinaus, wo - diese letzte Zeile hat Solanka niemals vergessen - einer nach dem anderen die Sterne verloschen .

Für einen solchen Leser - und, im Kino, Bewunderer der Sci-Fi-Filme Fahrenheit 451 und Solaris - war George Lucas eine Art Antichrist und der Spielberg von Close Encounters ein Kind, das in der Sandkiste der Erwachsenen spielt, während die Terminator-Streifen die heilige Flamme weitertrugen. Und nun war er an der Reihe. In jenen unbeständigen Sommertagen arbeitete Professor Malik Solanka wie ein Besessener an der Welt der Marionettenkönige - den Puppen ebenso wie an ihren Lebensgeschichten. Sein Kopf war voll von der Story des wahnsinnigen Wissenschaftlers Akasz Kronos und seiner schönen Geliebten Zameen. New York verblaßte im Hintergrund; oder vielmehr, alles, was ihm in der Stadt zugestoßen war - jede Zufallsbegegnung, jede Zeitung, die er aufschlug, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Traum -, nährte seine Phantasie, als seien sie vorfabriziert worden, um genau in die Struktur dessen zu passen, was er bereits ersonnen hatte. Das reale Leben begann sich dem Diktat der Fiktion zu beugen, indem es genau das Rohmaterial lieferte, das er brauchte, um durch die Alchimie seiner wiedergeborenen Kunst verwandelt zu werden.

Den Namen Akasz hatte er von aakaash abgeleitet, dem Hindi-Wort für Himmel. Himmel wie in Asmaan (Urdu), wie in der armen Sky Schuyler, wie in den großen Himmelsgöttern: Uranus, Varuna, Brahma, Jahwe, Manitu. Und Kronos war der Grieche, der Kinderverschlinger, die Zeit. Zameen war die Erde, das Gegenstück des Himmels, die sich am Horizont mit dem Himmel vereint. Akasz hatte er von Anfang an klar und deutlich vor sich gesehen, den ganzen Bogen seines Lebens vor Augen gehabt. Zameen dagegen hatte ihn überrascht. In dieser Erzählung von einer ertrinkenden Welt hatte er nicht erwartet, daß eine Erdgöttin - nicht einmal eine nach Neela Mahendra geschaffene - eine zentrale Rolle übernahm. Dennoch war sie unleugbar da, und indem sie auftauchte, hatte sie die Handlung positiv verdichtet. Ihre Gegenwart schien vorbestimmt zu sein, obwohl er sie eigentlich gar nicht geplant hatte. Neela/Zameen van Rijk/Siegesgöttin: drei Versionen derselben Frau hatten seine Gedanken beschäftigt, und er erkannte, daß er schließlich die Nachfolgerin des berühmten Geschöpfes seiner Jugend gefunden hatte. »Hallo, Neela«, sagte er sich, »und nun, endlich, leb wohl, Braingirl.«

Was aber auch ein Lebwohl für seine Nachmittage mit Mila Milo bedeutete. Mila hatte sofort bemerkt, daß er sich verändert hatte, spürte es, als sie sah, wie er zu seiner Verabredung mit Neela auf der Treppe des Met aufbrach. Sie wußte, was ich wollte, bevor ich es mir selbst eingestanden hatte, mußte Solanka zugeben. Vermutlich war dort und dann alles zwischen uns zu Ende. Selbst wenn das Wunder nicht geschehen wäre, selbst wenn Neela mich nicht so absolut unvorhersehbar gewählt hätte, hatte Mila genug gesehen. Sie besitzt eine eigene, sehr reale Schönheit, und ihren Stolz, und sie denkt nicht daran, die zweite Geige zu spielen. Als er nach einer endlos überraschenden Nacht mit Neela in einem Hotelzimmer auf der anderen Seite des Parks - einer Nacht, deren größte Überraschung darin bestand, daß sie überhaupt stattfand - nach Hause kam, fand er Mila ostentativ verschlungen mit dem schönen, dummen Eddie Ford auf der Vortreppe des Nachbarhauses; Eddie, ein geborener Leibwächter, strahlte vor Freude darüber, daß er das Wächteramt über den einzigen Leib zurückerobert hatte, der ihm wichtig war. Der Blick, den Eddie Solanka über Milas Schulter hinweg zuwarf, war bemerkenswert ausdrucksstark. Buddy, sagte er, du hast keinen Zutritt mehr zu dieser Adresse; zwischen dir und dieser Lady ist jetzt eine rote Samtkordel gespannt, und deine Akkreditierung ist so erloschen, daß du nicht mal daran denken solltest, auch nur einen Schritt in diese Richtung zu tun - natürlich nur, wenn du nicht willst, daß ich dir gründlich die Zähne putze, und zwar mit deinem eigenen Rückgrat als Zahnbürste.

Am folgenden Nachmittag stand sie jedoch vor seiner Tür. »Geh bitte mit mir irgendwo hin, wo’s elegant und teuer ist. Ich muß mich mal schönmachen und Berge von Essen in mich hineinstopfen.« Essen war Milas normale Reaktion auf Kummer, Trinken ihre Antwort auf Zorn. Traurig ist vermutlich besser als wütend, sinnierte Solanka wenig versöhnlich. Jedenfalls leichter für mich. Zum Ausgleich für diesen selbstsüchtigen Gedanken rief er in einem zur Zeit vielgepriesenen Lokal an, einem auf Kuba gestylten Bar-Restaurant in Chelsea mit dem Namen Gio zu Ehren von Dona Gioconda, einer alternden Diva, deren Stern in jenem Buena-Vista-Sommer strahlend leuchtete und in deren träger Rauchfahne von Stimme das ganze alte Havanna zum stolzierenden, verführerischen, schmeichelnden Leben wiedererwachte. Solanka bekam so mühelos einen Tisch, daß er darüber eine Bemerkung zu der Dame machte, die seine Bestellung aufnahm. »Die City ist jetzt wie ’ne Geisterstadt«, stimmte sie ihm distanziert zu. »Nichts mehr los. Bis heute abend um neun, also.«

»Du hast mich verlassen, und ich sterbe«, sang Gioconda über das Lautsprechersystem des Lokals, als Solanka und Mila hereinkamen, »aber nach drei Tagen stehe ich wieder auf. Geh nicht auf meine Beerdigung, Dummkopf, ich werde ausgehen und mit einem besseren Mann tanzen. Auferstehung, Auferstehung, und Baby, ich werde dafür sorgen, daß du weißt, wann.« Mila übersetzte den Text für Solanka. »Das ist perfekt«, fügte sie hinzu. »Hörst du zu, Malik? Denn wenn ich mir ein Chanson wünschen könnte, würde ich genau dieses nehmen. Wie es so schön im Radio heißt, die Botschaft liegt in den Worten. Oh, du dachtest, du könntest mich zerbrechen, und es stimmt, ich bin jetzt zerbrochen, aber in drei Tagen werden sie mich wecken, aus der Ferne wirst du sehen, wie ich mich verneige. Auferstehung, Auferstehung, jetzt kann jeden Tag ein neues Leben beginnen. «

An der Bar kippte sie sehr schnell einen Mojito und bestellte sofort den nächsten. Solanka erkannte, daß ihm ein schwererer Ritt bevorstand, als er erwartet hatte. Nachdem sie das zweite Glas geleert hatte, ging sie zum Tisch, bestellte sämtliche scharfen Gerichte, und dann gab sie’s ihm. »Du kannst dich glücklich schätzen«, erklärte sie ihm und machte sich an die Guacamole, »denn offensichtlich bist du ein Optimist. Das mußt du sein, denn es fällt dir so leicht, Dinge wegzuwerfen. Dein Kind, deine Frau, mich, was immer. Nur ein fanatischer Optimist, eine dumme, hirntote Pollyanna oder ein Pangloss, wirft etwas weg, das so kostbar ist, das so selten ist und sein tiefstes Bedürfnis befriedigt, das du, wie du weißt und wie ich weiß, nicht mal benennen oder ansehen kannst, ohne die Läden zu schließen und das Licht zu löschen, du mußt dir ein Kissen auf den Schoß legen und es verstecken, bis jemand kommt, der klug genug ist, um zu wissen, was zu tun ist, irgend jemand, dessen eigenes, unaussprechliches Bedürfnis zufällig genau zu deinem eigenen paßt. Und nun, da wir das geschafft haben, da die Abwehrschirme gesenkt sind und die Verstellung vorüber ist und wir tatsächlich in dem Raum sind, an dessen Existenz wir uns niemals selbst glauben ließen, keiner von uns, der unsichtbare Raum unserer größten Angst - genau in dem Moment, in dem wir entdecken, daß es in diesem Raum keinen Grund gibt, sich zu fürchten, daß wir haben können, was wir wollen, und zwar so lange, wie wir es wollen, und wenn wir dann genug haben, werden wir vielleicht aufwachen und entdecken, daß wir richtige, lebendige Menschen sind und nicht die Marionetten unserer Wünsche, sondern einfach diese Frau, dieser Mann, und können mit dem Spiel aufhören, die Läden öffnen, das Licht ausmachen und Hand in Hand in die Stadt hinaustreten ... genau in dem Moment reißt du plötzlich irgendeine Hure im Park auf und nimmst verdammt noch mal ein beschissenes Hotelzimmer. Ein Optimist ist ein Mann, der ein unglaubliches Vergnügen aufgibt, weil er sicher ist, daß er es gleich um die nächste Ecke wiederfindet. Ein Optimist denkt, daß sein Schwanz vernünftiger ist als, nun ja, lassen wir das. Ich wollte sagen, als sein Mädchen, das heißt, dummerweise ich. Ich bin übrigens ein Pessimist. Ich bin der Ansicht, daß der Blitz niemals zweimal irgendwo einschlägt und normalerweise nicht mal einmal. Das war’s also für mich, was zwischen uns geschehen ist, war wirklich das Wahre, und du, du mußtest, verdammt, verdammt. Ich hätte bei dir bleiben können, hast du jemals daran gedacht? Oh, nicht lange, nur etwa dreißig, vierzig Jahre, länger, als du vermutlich noch zu leben hast. Statt dessen werde ich Eddie heiraten. Du weißt ja, wie man so sagt: Wohltätigkeit beginnt zu Hause.«

Schwer atmend hielt sie inne und widmete sich dem bunten Durcheinander der Speisen, die vor ihr standen. Solanka wartete; gleich würde es sicher weitergehen. Du kannst ihn nicht heiraten, dachte er, das darfst du nicht, aber er hatte kein Recht mehr, ihr derartige Ratschläge zu erteilen. »Du redest dir ein, das, was wir getan haben, sei unrecht«, fuhr sie fort. »Ich kenne dich. Du benutzt dieses Schuldbewußtsein, um dich zu befreien. Nun denkst du dir, du könntest mich verlassen und dir einreden, das sei eine moralische Entscheidung. Aber das, was wir getan haben, war nicht unrecht«, und jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ganz und gar nicht unrecht. Wir haben einander nur über den schrecklichen Schmerz eines Verlustes hinweggetröstet. Diese Puppensache war nur eine Möglichkeit, das zu erreichen. Glaubst du wirklich, ich hätte mit meinem Vater gebumst, glaubst du, ich hätte mich mit dem Arsch auf seinen Schoß geschmiegt, meine Nägel in seine Brustwarzen geschlagen und ihm die arme, liebe Kehle abgeschleckt? All das redest du dir ein, um da rauszukommen, oder war das auch schon beim Reinkommen so? War das der Kick, der Geist meines Vaters zu sein? Mein lieber Professor, wenn einer hier krank ist, dann bist das du. Und ich sage es dir noch einmal. Was wir getan haben, war nicht unrecht. Es war ein Spiel. Ein ernsthaftes Spiel, ein gefährliches Spiel möglicherweise, aber ein Spiel. Ich dachte, das hättest du verstanden. Ich dachte, du wärst vielleicht dieses unglaubliche Wesen, ein sexuell erfahrener Mann, der mir einen sicheren Ort bieten könnte, einen Ort, um frei zu sein und auch dich zu befreien, einen Ort, wo wir all das angesammelte Gift, den Zorn und den Schmerz loswerden könnten, einfach loswerden und uns davon befreien, doch wie sich herausstellt, Professor, bist auch du nur wieder ein Tor. Von dir war heute übrigens bei Howard Stern die Rede.«

Das war eine Wendung, die er nicht erwartet hatte, ein schneller Schlenker gegen den entgegenkommenden emotionalen Verkehr. Perry Pincus, sagte er sich mit plötzlicher Wehmut. »Dann hat sie’s also geschafft. Was hat sie gesagt?« »Ooch«, sagte Mila mit einem Mundvoll Lamm in Salsa verde, »eine Menge.« Mila hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und konnte oft ganze Gespräche fast wörtlich wiederholen. Die Perry Pincus, die sie nunmehr mit so großem Gusto am Verletzen gab und bei der sie der jungen Sarah Bernhardt, der etwas gegenwärtigeren Stockard Channing ähnelte, war daher vermutlich extrem verläßlich wiedergegeben, wie Solanka schweren Herzens einsehen mußte. Manchmal sind diese sogenannten großen männlichen Superhirne Paradebeispiele für entwicklungsmäßig Zurückgebliebene , hatte Perry Howard und seinem riesigen Publikum erklärt. »Nehmen wir den Fall dieses Malik Solanka, der, kein Superhirn, die Philosophie aufgab und zum Fernsehen ging, und ich möchte offen sagen, daß er einer von denen war, mit denen ich nie, Sie wissen schon. Er zählte nicht dazu. Das war sein Problem, nicht wahr? Nun gut. Ich sage Ihnen, das ganze Zimmer von diesem Solanka, und vergessen Sie nicht, daß wir hier von einem Fellow am Kings College, Cambridge, England, sprechen, war vollgestopft mit Puppen, und ich meine wirklich Puppen. Als ich das sah, hab ich mich möglichst schnell davongemacht. Der soll mich doch um Gottes willen nicht als eine Puppe sehen und mich in den Bauch piksen, bis ich Ma-ma sage. Ich war, entschuldigen Sie, aber schon als ich noch klein war, habe ich keine Puppen gemocht, und dabei bin ich doch wohl ein Mädchen. Wie bitte? Nein, nein. Bei Schwulen fühle ich mich wohl. Absolut. Ich komme aus Kalifornien, Howard. Aber sicher. Der war nicht schwul. Der war ... gaga. Es war - wie soll ich sagen - albern. Als Gag schicke ich ihm immer noch Kuscheltiere zu Weihnachten. Etwa den Eisbären von Coca-Cola. Verstehen Sie? Er hat sich nie dafür bedankt, aber raten Sie mal! Er hat auch nie eins davon zurückgeschickt. Männer. Wenn man ihre Geheimnisse kennt, kann man sich das Lachen kaum verbeißen.«

»Ich habe überlegt, ob ich’s dir sagen soll«, sagte Mila, »aber dann dachte ich, was soll’s, die Schonzeit ist vorbei.« Dona Gio sang immer noch, aber das Kreischen der Furien übertönte im Moment ihre Stimme. Die hungrigen Göttinnen jagten um ihrer beider Köpfe, nährten sich von ihrem Zorn. Das Pincus-Interview dröhnte in ihm, und Milas Ausdruck veränderte sich. »Still«, sagte sie. »Okay, es tut mir leid, aber würdest du bitte aufhören, dieses Geräusch zu machen? Die werden uns gleich hier rausschmeißen, und ich hab noch nicht mal mein Dessert bekommen.« Es war deutlich, daß das Dröhnen in den Raum hinausgedrungen war. Die Leute starrten. Der Eigentümer und Manager, ein Raul-Julia-Typ, kam schon auf sie zu. Ein Glas zerbrach in Malik Solankas Hand. Es floß ein häßlicher Strom aus Wein und Blut. Jetzt mußten sie wirklich gehen. Verbandszeug wurde geholt und appliziert, die Hilfe eines Arztes abgelehnt, die Rechnung eiligst herbeigebracht und beglichen. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Milas Wut ließ nach, übertroffen von seiner eigenen. »Also, diese Frau bei Howard«, sagte sie, als sie endlich ein Taxi erwischt hatten, »die kam mir im Grunde vor wie eine alternde Nympho, die aus dem Nähkästchen plaudert. Du bist ein älterer Mensch, du solltest wissen, wie das Leben ist. Überall hängen lose Enden herum, und gelegentlich schnappen sie zurück und schlagen dir wie eine Peitsche übers Gesicht. Laß sie laufen. Sie bedeutet dir nichts, hat dir kaum jemals was bedeutet, und bei der Masse von schlechtem Karma, die sie aufbaut, sehe ich schwarz für sie. Also Schluß mit dem Gebrüll in der Öffentlichkeit! Herrgott. Manchmal kannst du einem richtig Angst einjagen. Meistens denke ich, daß du keiner Fliege was zuleide tun kannst, und dann spielst du plötzlich diesen Godzilla aus der Schwarzen Lagune, der aussieht, als könnte er einem T-Rex die Kehle zerreißen. Das mußt du unter Kontrolle bringen, Malik. Wo immer es herkommt, dorthin mußt du es zurückschicken.«

»Der Islam wird deine Seele von schmutziger Wut befreien«, fiel der Taxifahrer ihr ins Wort, »und dir den heiligen Zorn zeigen, der Berge versetzt.« Und dann ergänzte er, indem er die Sprache wechselte und ein anderer Wagen seinem Taxi unerträglich nahe kam, »he, Amerikaner! Du bist ein gottloser homosexueller Vergewaltiger der Lieblingsziege deiner Großmutter.« Solanka mußte lachen, das furchtbare, freudlose Gelächter der Erleichterung: ein hartes, schmerzhaftes, reißendes Schluchzen. »Hallo, Geliebter Ali«, keuchte er. »Schön, daß du wieder so groß in Form bist.«

 

Eine Woche später rief Mila ihn überraschend an und lud ihn ein, um über etwas anderes zu sprechen. Sie gab sich freundlich, sachlich, aufgeregt. Sie hat sich schnell wieder gefaßt, dachte Solanka erstaunt, als er ihre Einladung akzeptierte. Es war sein erster Besuch in Milas winziger Wohnung im dritten Stock ohne Lift, die, wie er fand, wie ein typisch amerikanisches Apartment aussehen wollte, was aber ziemlich danebengegangen war: Poster von Sportgrößen wie Latrell Sprewell und Serena Williams rahmten mehr oder weniger passend Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten und sich unter dicken Bänden serbischer und osteuropäischer Literatur im Original sowie in französischer und englischer Übersetzung bogen - Kis, Andric, Pavic, einiges von den Konventionen verachtenden Klkotrizans und, aus der klassischen Periode, Obradovic und Vuk Stefanovic Karadzic; außerdem Klima, Kadare, Nädas, Konräd, Herbert. Nirgends gab es ein Foto von ihrem Vater; Solanka fiel diese Unterlassung sofort auf. Das gerahmte Schwarzweiß-Foto einer jungen Frau im Blümchenkleid mit Gürtel, die Solanka breit entgegenlächelte. Milas Mutter sah aus wie Milas jüngere Schwester. »Siehst du, wie glücklich sie ist?« sagte Mila.

»Das war der letzte Sommer, bevor sie von ihrer Krankheit erfuhr. Ich bin jetzt genauso alt wie sie, als sie von uns ging, also ein Albtraum weniger, der mich quält. Diese Hürde habe ich überwunden. Jahrelang dachte ich, daß das nicht geschehen würde.« Sie wollte zu dieser Stadt gehören, zu diesem Land und in diese Zeit, aber die alten europäischen Dämonen kreischten in ihren Ohren. In einer Hinsicht gehörte Mila jedoch rückhaltlos zu ihrer amerikanischen Generation. Der Computer-Arbeitsplatz war der Mittelpunkt des Raumes: das Mac Powerbook, der ältere Desktop-Macintosh, auf der Arbeitsplatte zurückgeschoben, der Text-Scanner, der CD-Brenner, das anschließbare Audio-System, der Musik-Sequencer, der Backup-Zip-Drive, die Handbücher, die Regale voll CD-ROMS, DVDs und vielem mehr, das Solanka nicht so leicht einordnen konnte. Sogar das Bett wirkte wie in letzter Minute hinzugefügt. Bestimmt würde er niemals seine Freuden kennenlernen. Sie hatte ihn hierherbestellt, um das alles hinter sich zu bringen, soviel begriff er. Es war ein weiteres Beispiel für ihr System umgekehrter Signale. Ihr verstorbener Vater war der wichtigste Mensch in ihrem Leben, deswegen war nirgends ein Foto von ihm zu sehen. Solanka war jetzt nur noch der Professor von nebenan; ergo, hol ihn dir auf eine Tasse Kaffee ins Schlafzimmer. Sie hatte eindeutig eine Ansprache ausgearbeitet und befand sich im Zustand höchster Bereitschaft, platzte fast vor Erwartung. Sobald sie ihm einen Kaffeebecher gegeben hatte, wurde der offensichtlich geplante Ölzweig dargeboten. »Weil ich ein überlegener Menschentyp bin«, sagte Mila mit einer Spur ihres alten Humors, »weil ich mich über persönliche Tragödien erheben und auf einer höheren Ebene funktionieren kann, und auch weil ich wirklich finde, daß du großartig bist in dem, was du tust, habe ich den Jungens von deinem neuen Projekt erzählt. Von den coolen Science-Fiction-Figuren, die du dir ausgedacht hast: dem wahnsinnigen Kybernetiker, der Idee des ertrinkenden Planeten, die Cyborgs gegen die Lotusfresser von der anderen Seite der Welt, dem Kampf bis aufs Blut zwischen dem Künstlichen und dem Realen. Wir würden gern zu dir kommen und mit dir über eine Website sprechen. Es gibt da eine ganze Präsentation, die wir haben, du bekommst eine Vorstellung von dem, was machbar ist. Um dir nur eines davon zu schildern, sie haben eine Möglichkeit entwickelt, Videomaterial so zu komprimieren, daß du online fast DVD-Qualität erhältst, und innerhalb einer Generation wird es nahezu gleichwertig sein. Es ist fortschrittlicher als alles, was du anderswo bekommst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell alles heutzutage geht, ein jedes Jahr ist Steinzeit für das Jahr, das darauf folgt. Hier nur das kreative Potential, was man mit einer Idee jetzt machen kann. Die besten Sites sind unerschöpflich, die Leute kommen immer wieder, es ist wie eine Welt, die du ihnen anbietest, damit sie dazugehören können. Sicher, du mußt die Verkaufs- und Liefermechanismen richtig steuern, man muß es den Leuten leichtmachen, sich in das einzukaufen, was du ihnen bietest, aber dafür haben wir auch schon was ausgearbeitet. Hauptsache ist aber, es dir leichtzumachen. Die Vorgeschichte und die Figuren hast du ja schon. Und die lieben wir. Aber um die Kontrolle über das Konzept zu behalten, mußt du ein Haupt-Handbuch, die Parameter für die Figuren-Entwicklung, die Regeln für die Storyline, die Gesetze deines imaginären Universums zusammenstellen. Innerhalb dieses Rahmens gibt es so viele brillante Kids, die mit Wonne alle möglichen ... man kann’s nicht mal sagen, sie erfinden täglich total neue Medien. Wenn es funktioniert, werden die alten Medien natürlich angerannt kommen, Bücher, Tonträger, Fernsehen, Filme, Musicals und wer weiß was sonst noch alles.

Ich liebe diese Jungs. Sie sind so eifrig, sie können eine Idee nehmen und damit in die, na ja, fünfte Dimension losziehen, und du brauchst es ihnen nur zu ermöglichen, du bist der absolute Herrscher, nichts geschieht, wenn du es nicht willst; du brauchst nur dazusitzen und ja zu sagen, ja, nein, ja, ja, nein, boah!« Mit beiden Händen machte sie beruhigende, nach unten drückende Bewegungen. »Laß mich ausreden. Würdest du mich um Himmels willen ausreden lassen, das schuldest du mir, Malik. Ich weiß, wie unglücklich du über die ganze Braingirl-Saga warst - bist. Jetzt bin ich mit im Spiel, verstehst du? Ganz sicher, Malik. Ich erkläre es dir. Dieses Mal wirst du nicht die Kontrolle verlieren. Dieses Mal hast du ein viel besseres Medium, als es damals, als du das Braingirl erfunden hast, überhaupt gab, und du beherrschst es absolut. Dies ist deine Chance, gutzumachen, was damals falsch gelaufen ist, und wenn es klappt, seien wir doch nicht schamhaft, sind die finanziellen Vorteile enorm. Wir alle denken, daß dies ein Riesengeschäft werden kann, wenn man es richtig macht. Übrigens, was das Braingirl angeht, so bin ich nicht hundertprozentig einverstanden mit deiner Einstellung, weil ich sie, wie du weißt, großartig finde, und die Dinge ändern sich, das ganze Konzept des geistigen Eigentums hat sich völlig verändert, es ist heute weit kooperativer. Du mußt ein bißchen flexibler sein, nur ein ganz kleines bißchen, okay? Also laß dann und wann auch mal andere Leute in deinen magischen Zirkel ein. Du bist und bleibst der Magier, aber alle anderen spielen auch mal gern mit dem Zauberstab. Braingirl? Laß sie fliegen, Malik, laß sie bleiben, was sie ist. Sie ist inzwischen erwachsen. Laß sie gehen. Lieben kannst du sie immer noch. Sie ist immer noch dein Kind.«

Sie war aufgesprungen, ihre Finger flogen auf dem Laptop, riefen Hilfe herbei. Schweißtröpfchen perlten über ihrer Lippe. Der siebente Schleier fällt, dachte Solanka. Obwohl Mila ihre Sportkleidung trug und voll angekleidet war, stand sie splitternackt vor ihm. Furia. Dies war das Ich, das sie ihm niemals ganz gezeigt hatte, Mila als Furie, die Welten-Verschlingerin, das Ich als pure transformative Energie. In dieser Inkarnation war sie zutiefst erschreckend und zugleich wundervoll. Wenn eine Frau vor ihm so erblühte, wenn sie ihn durch die Flut ihrer überfließenden Energie überwältigte, vermochte er keiner Frau zu widerstehen. Danach suchte er in den Frauen: übermannt, überwunden zu werden. Diese gangestische, mississippische Überflutung, deren Verebben, wie er traurig feststellte, das Scheitern seiner Ehe verursacht hatte. Überwältigung dauert nicht ewig. So erstaunlich auch die Initialzündung gewesen sein mochte, zum Schluß erstaunt uns die geliebte Frau immer weniger. Sie bewältigt uns nur noch und irgendwann einmal nicht mehr das. Aber auf dieses Bedürfnis nach Exzeß verzichten, auf dieses immense Gefühl, das Gefühl, das bewirkte, daß er sich wie ein Surfer im Schnee vorkam, auf dem Kamm einer Riesenwoge zu reiten? Diesem Bedürfnis lebwohl sagen, hieße, zugleich akzeptieren, daß er, was das Begehren betraf, zugeben mußte, tot zu sein. Und wenn die Lebenden sich eingestehen, daß sie tot sind, dann beginnt die dunkle Wut. Die dunkle Wut des Lebens, das sich weigert, vor der zugemessenen Zeit zu sterben.

Er streckte die Hand nach Mila aus. Sie stieß seinen Arm beiseite. Ihre Augen glänzten: Sie hatte sich bereits von ihm erholt und war wieder zur Königin geworden. »Das ist es, was wir einander jetzt sein können, Malik. Nimm’s oder laß es bleiben. Wenn du nein sagst, werde ich nie wieder ein Wort mit dir wechseln. Aber wenn du an Bord kommst, werden wir uns die Ärsche für dich aufreißen, und von mir werden keine feindseligen Gefühle mehr kommen. Diese neue Welt ist mein Leben, Malik, es ist der Zug meiner Zeit, es wächst, wie ich wachse, lernt, wie ich lerne, wird, was ich werde. Es ist das, wo ich mich am lebendigsten fühle. Dort, in der Elektrizität. Ich hab’s dir gesagt: Du mußt lernen, wie man spielt. Ernsthaftes Spiel, das ist mein Ding. Darum geht es, und ich weiß, wie man es handhabt, und wenn du mir das Material gibst, das ich brauche, um damit zu arbeiten, nun gut, Baby, dann ist das für mich besser als das, was unter dem Kissen auf deinem Schoß gewartet hat. So schön es auch war, versteh mich nicht falsch. Es war wirklich schön. Okay, ich bin fertig. Bitte, antworte jetzt nicht. Geh nach Hause. Denk darüber nach. Laß uns die volle Präsentation machen. Es ist eine sehr große Entscheidung. Geh’s langsam an. Triff sie, wenn du bereit dazu bist. Aber warte nicht zu lange.«

Der Computer-Bildschirm erwachte zum Leben. Bilder rasten auf ihn zu wie Basarhändler. Die Technologie als Trödler, der seine Waren verhökert, dachte Solanka; oder als Hure, die in einem dunklen Nightclub die Hüften für mich schwingt. Laptop als Lapdancer. Das Soundsystem übergoß ihn mit Hi-Fi-Lärm wie mit einem goldenen Regen. »Ich brauche nicht nachzudenken«, antwortete er ihr. »Wir machen’s. Also los.«